Kepper: Digitale Musikedition - eine BegriffsbestimmungKepper: Digital Music Edition – A Definition

Digitale Musikedition – eine Begriffsbestimmung

Was ist eigentlich unter "digitaler Musikedition" zu verstehen? Welche Konzepte und Modelle stehen hinter diesem Begriff? Was zeichnet eine digitale Musikedition aus? – Diese Fragen wollen wir im Folgenden aus Sicht unseres Projekts zu beantworten zu versuchen, um so gleichzeitig den konzeptionellen Hintergrund unseres Projekts vorzustellen.

Zunächst wird eine musikalische Ausgabe nicht allein dadurch digital, dass sie in einem digitalen Medium angeboten wird. Reine Retrodigitalisierungen, die über nachträglich ergänzte einfache Suchmöglichkeiten nicht hinausgehen (siehe etwa die überaus nützliche NMA online) stellen in diesem Sinne keine tatsächlich digitalen Ausgaben dar, sondern lediglich digitalisierte Inhalte, die einem anderen Medium entstammen und auch für dieses konzipiert wurden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich digitale Ausgaben vor allem durch eine konsequente und vollständig mediengerechte Umsetzung auszeichnen. Ein wesentliches Charakteristikum digitaler Medien ist ihre Affinität zu bildbasierten Inhalten: Während das Lesen umfangreicher Texte häufig als unbequem empfunden wird, lassen sich Abbildungen aufgrund nicht vorhandener Druckkostenbeschränkungen in nahezu beliebigem Umfang nutzen, so dass z.B. farbige Quellenfaksimiles zur Selbstverständlichkeit werden. Eine weitere Besonderheit digitaler Medien egibt sich durch das Hypertext-Prinzip: Inhalte werden nicht mehr sequentiell konzipiert und aufbereitet, sondern eröffnen dem Nutzer durch eine netzartige Struktur individuelle Erschließungswege. Nicht mehr die vom Editor vorgedachte Reihenfolge der Inhalte bestimmt den Erkenntnisprozeß des Nutzers, sondern dessen eigenes Interesse. Die Implikationen dieses Prinzips auf die Gestaltung wissenschaftlicher Ausgaben beschreibt Jerome McGann bereits 1995.

Aus Sicht des Edirom-Projekts ergibt sich durch die Kombination dieser beiden Spezifika die Anforderung, die Inhalte einer Ausgabe möglichst stark miteinander in Verbindung zu setzen, und dabei gleichzeitig möglichst intensiv mit Bildern zu arbeiten. Gerade im Bereich Musik ist es oft leichter (und vor allem eindeutiger), einen Sachverhalt in Musiknotation darzustellen, als mit einer verbalen Umschreibung zu arbeiten. Dies gilt umso mehr, wenn sich bei handschriftlichen Notentexten mehrere Deutungsmöglichkeiten anbieten: Es ist für den Nutzer einer Ausgabe deutlich leichter, die Ausführungen des Editors nachzuvollziehen, wenn er wie dieser alle relevanten Quellenfaksimiles in angemessener Qualität einsehen kann. Durch die mangelnde Eindeutigkeit und historische Wandelbarkeit musikalischer Notation ergibt sich dabei aber die Notwendigkeit, dem Nutzer umfangreichere Lesehilfen zur Verfügung zu stellen, als sie für eine gedruckte Ausgabe, die neben dem Neusatz des Edierten Textes üblicherweise nur einige ausgewählte Faksimileseiten enthält, nötig und üblich sind. Damit ändert sich die Funktion des Kritischen Berichts: Es geht nicht mehr allein um die Präsentation der Ergebnisse der editorischen Arbeit, sondern gleichzeitig um die Unterstützung eines nun formal mündigen und eigenständigen Nutzers, der aufgrund einer eigenen synoptischen Gegenüberstellung der Quellen die Arbeit des Editors hinterfragen und zu eigenen Schlüssen gelangen kann. Für den Editor bietet sich dabei die Möglichkeit, offener über unklare oder mehrdeutige Passagen zu diskutieren. Natürlich muss für eine Aufführung eine eindeutige Entscheidung getroffen werden, aber im Rahmen einer digitalen wissenschaftlichen Ausgabe ist es durchaus legitim, alternative Interpretationen vorzustellen und deren jeweilige Voraussetzungen gegeneinander abzuwägen.

Gerade auch um den Editor gegenüber ungerechtfertigter Kritik an seiner Arbeit in Schutz zu nehmen, erscheint es daher sinnvoll, die Einzelanmerkungen des Kritischen Berichts nicht mehr in einer (sequentiellen) tabellarischen Form aufzubereiten, sondern stattdessen im Faksimile an den jeweils thematisierten Stellen zugänglich zu machen. Auf diese Weise kann der Nutzer beim Lesen der Quellen direkt an den fraglichen Stellen die Erläuterungen des Editors einblenden und so den jeweiligen Sachverhalt intuitiv und schnell erfassen. Da sämtliche Lesehilfen und zusätzlichen Bedeutungsebenen im Faksimile grundsätzlich immer dynamisch ein- und ausblendbar sind, werden so die Bestandteile einer wissenschaftlich-kritischen Ausgabe – Notentext und Kritischer Bericht – stärker miteinander verzahnt, als es in einer Print-Ausgabe etwa durch diakritische Einzeichnungen möglich wäre, während gleichzeitig das Notenbild vor allem der Faksimiles nicht durch permanente Eintragungen korrumpiert wird.

Trotz dieser Vorteile versteht sich eine digitale Musikedition nicht als Ersatz für gedruckte Ausgaben, sondern als Ergänzung. Die Haptik eines Buches ist am Computer nicht vermittelbar, und auch für eine praktische Aufführung ist eine rein digitale Ausgabe kaum geeignet. Aus Sicht des Edirom-Projekts stellt damit für wissenschaftlich-kritische Ausgaben, die im Musikbereich ja neben einem wissenschaftlichen Publikum auch immer die musikalische Praxis adressieren, eine Hybrid-Ausgabe, also die Kombination von digitalen und gedruckten Editionsbestandteilen, die ideale Publikationsform dar. Dabei findet eine funktionale Trennung der beiden komplementären Teile statt: Während sich der gedruckte Band an die Praxis richtet und lediglich einige einführende bzw. begleitende Texte zur Ausgabe bereitstellt, werden alle wissenschaftlichen Erkenntnisse in deutlich verbesserter Form im digitalen Medium bereitgestellt. Auf diese Weise können die jeweiligen Vorteile beider Medien in idealer Weise kombiniert und zu einer insgesamt nochmals deutlich besseren Editionsform zusammengeführt werden.

Während sich das Edirom-Projekt bisher noch im Grenzbereich von gedruckter und digitaler Edition bewegt, werden sich langfristig durch eine grundständig digitale Edition völlig neue Perspektiven eröffnen. Dies hängt einerseits mit der Entwicklung eines für editorische Zwecke geeigneten Codierungsstandards für Musik zusammen, durch den das gesamte vorhandene Datenmaterial (und nicht bloß der Textanteil von Editionen) operationalisierbar wird, zum anderen mit neuartigen Darstellungsformen, die die Dimensionen Raum (sowohl auf die graphische Anordnung der musikalischen Zeichen auf der Seite als auch die Präsentation der Daten im Medium bezogen) und Zeit (also die Prozesshaftigkeit des Kompositions- und Schreibvorgangs) mit einbeziehen, aber ebenso mit bisher kaum genutzten semantisch aufbereiteten Verknüpfungstechniken der Daten. Aufgrund der besonderen Anforderungen in diesem Bereich beschränkt sich das Edirom-Projekt in der jetzigen Förderphase aber auf erste Versuche in diesem Bereich.